From the series Cels, 2022
Acrylic on fresnel lenses
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Für die Pariser Weltausstellung von 1900 realisierte der Architekt René Binet die Porte Monumentale. In dem temporären Bau, einem mit Gipsreliefs verzierten und verschalten Stahlgerüst, befanden sich die Ticketschalter, die die Besucher*innen passieren mussten, um in die Ausstellung zu gelangen. Binets Entwurf nahm Bezug auf die wenige Zeit zuvor entstandenen Radiolarien-Zeichnungen des Biologen Ernst Haeckels. Diese idealisierten Darstellungen unterseeischer Mikroorganismen – organische Wucherungen werden zu streng symmetrisch angeordneten Ornamenten – zeugen von Haeckels Beeinflussung durch die zeitgenössische Ästhetik des Jugendstils. Ich stelle mir vor, dass es nicht zuletzt die vertraute Bildsprache war, die wiederum Binets Interesse weckte und ihm den Zugang zu Haeckels Arbeiten erleichterte. In diesem Sinne lese ich die Zeichnungen wie Animationen und Modelle, die wissenschaftliche Konzepte visualisieren. Binet sah das Verhältnis zwischen Idee und Darstellung unvermittelter und wollte sein Bauwerk als Monument einer naturwissenschaftlich begründbaren Kunstauffassung verstanden wissen. Ich bin fasziniert von diesem ästhetischen Feedbackloop.
Anmerkung
Sowohl René Binet als auch Ernst Haeckel waren in die kolonialrassistischen und faschistischen Verbrechen verwickelt, die von europäischen Staaten ausgingen und bis heute nachwirken. So wurde auf der Pariser Weltausstellung von 1900 etwa die menschenverachtende Praxis des Ausstellens verschleppter Indigener Menschen ausgeübt. Und die in Haeckels Schriften enthaltenen affirmativen Überlegungen zur Übertragbarkeit der Evolutionstheorie auf soziale Zusammenhänge dienten als Referenzen für die sogenannte Eugenik und die sogenannte Rassenhygiene im Nationalsozialismus.
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Vor ein paar Jahren wurde mein Mitbewohner beim Fahren ohne Fahrschein erwischt. Er hatte meinen Studierendenausweis dabei; den hatte ich ihm geliehen. In der Hoffnung, sich als Nutzer eines Semestertickets ausgeben zu können, zeigte er ihn bei der Kontrolle vor. Der Vorfall kam zur Anzeige und nach einer Vernehmung erhielt auch ich einen Strafbefehl. In der Begründung machte die Staatsanwaltschaft ihr Selbstverständnis als Wächterin kultureller Ausschlussmechanismen kenntlich:
Sie überließen dem anderweitig Verfolgten XY Ihren Studentenausweis, damit er unter Vorzeigung Ihres Studentenausweises vergünstigten Eintritt zu kulturellen Einrichtungen der Stadt München erhält. Sie werden daher beschuldigt, zur Täuschung im Rechtsverkehr einem anderen ein Ausweispapier überlassen zu haben, das nicht für diesen ausgestellt ist, strafbar als Missbrauch von Ausweispapieren.
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Als Animationsfilme noch vorwiegend mit analogen Techniken produziert wurden, war ein Verfahren weit verbreitet, bei dem die Objekte im Vordergrund und die Szenerien im Hintergrund getrennt voneinander erstellt wurden. Die Bewegungsabläufe im Vordergrund wurden in Sequenzen von Einzelbildern aufgeteilt und auf transparente Zellulose-Acetat-Folien gezeichnet. Im nächsten Schritt wurden sie vor den zugehörigen, starren Hintergründen abfotografiert. Dieses Verfahren begünstigt eine vereinfachte Darstellung der Objekte im Vordergrund, ermöglicht aber auch eine detaillierte Ausarbeitung der Hintergründe. Die Zeichnungen, für die sich die Bezeichnung Cels durchgesetzt hatte, wurden nach Gebrauch abgewaschen und die Folien wiederverwendet. Aber noch bevor dieses Verfahren von computergestützten Prozessen abgelöst werden sollte, begannen Sammler*innen sich für die Cels zu interessieren. Das hatte zur Folge, dass sie auch nach dem Umstieg auf Computeranimation weiter existierten. Cels waren jetzt nicht länger ephemere Elemente einer filmischen Sequenz, sondern limitierte Editionen für einen Nischenmarkt.
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In den letzten Jahren habe ich als Kunstvermittler gearbeitet, inzwischen habe ich einen Job in der Lehre an einer Kunsthochschule. Zu beiden Tätigkeiten gehören Aufgaben, die auf unterschiedliche Weise den Zutritt zur jeweiligen Institution regulieren. So wird erwartet, Zugänge für Personen zu schaffen, die bestimmten demographischen Gruppen zugeschrieben werden, die ein Museum als Publikum erreichen möchte. Oder ich beteilige mich an Auswahlverfahren, in denen entschieden wird, wer zu einem Studium zugelassen wird und wer nicht. Diese bezahlten Tätigkeiten ermöglichen mir Teilhabe an so was wie dem Kunstbetrieb, zumindest zu einem gewissen Grad und meistens auch nicht in der von mir begehrten Rolle als professionell ausstellendem Künstler. Wenn ich so über meine eigene Verwicklung in kulturelle Ein- und Ausschlussmechanismen nachdenke, wünsche ich mir manchmal, ich könnte das im schnörkellosen Ton der Staatsanwaltschaft.